Kurze Antwort: Nein.
Kurze Fassung: Reichsdeppen sind der festen Überzeugung, der amerikanische Außenminister hätte am 17. Juli 1990 den Artikel 23 des GG und damit das gesamte GG aufgehoben und (ola!) damit die gesamte BRD einfach so gestrichen. Hat nur irgendwie niemand gemerkt. (Manche der Reichsdeppen reden auch vom 17. Juni oder 17. September, das kommt halt davon, wenn jeder nur von jedem abschreibt.)
Die Aufhebung des Artikel 23 (Nicht am 17. Juli 1990!) durch den „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag)“ diente dazu, dass keine weiteren Gebiete dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten können und somit einer Gebietserweiterung Deutschlands verfassungsgemäß ausgeschlossen werden konnte. Mit Polen wurde später extra noch mal im „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ vom 17. Juni 1991 die polnische Westgrenze abgesichert.
Doch betrachten wir das Thema mal ausführlicher.
Behauptung
Im Internet trifft man immer wieder auf die Behauptung, während der Verhandlungen zum 2+4-Vertrag in Paris habe der damalige US-Außenminister James Baker Art. 23 des Grundgesetzes am 17. Juli 1990 aufgehoben. Damit sei am 18. Juli 1990, also am darauffolgenden Tag, die Bundesrepublik Deutschland erloschen gewesen, da das Grundgesetz mit der Aufhebung dieses Artikels seinen Geltungsbereich verloren habe.
So ist zum Beispiel in einem nicht ganz unbekannten Weblog zu lesen:
Das „Grundgesetz für die BRD“ ist seit der durch die USA befohlenen Streichung des alten Art. 23, der den Geltungsbereich festlegte, erloschen.
Am 17.Juli 1990 bei den 4+2-Verhandlungen in Paris hat der US-Außenminister James Baker dem BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher mitgeteilt, daß der Artikel 23 GG a.F. per 18. Juli 1990 0.00 h gestrichen ist.
Nach diesem Zeitpunkt war kein Bundestag mehr berechtigt, völkerrechtliche Handlungen vorzunehmen.
Das ist nur eine der vielen Fundstellen für diese Behauptungen. Eine Google-Suche fördert noch zahlreiche weiteren Stellen zu Tage.
Und andere wiederum berufen sich darauf, wenn sie Bußgeldbescheide nicht anerkennen wollen, wie man hier nachlesen kann.
Der (ehemalige) Artikel 23
Was sagte dieser Artikel denn nun aus.
Es handelt sich um die alte Fassung dieses Artikels, wie sie von 1949 bis zum 3.10.1990 Bestand hatte, und er lautete:
Art. 23. Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.
Es wird darin aufgezählt, in welchen Ländern das Grundgesetz bei dessen Verabschiedung gegolten hat; wie wir wissen, konnte es nicht in ganz Deutschland gültig sein.
In Satz zwei ermöglichte der Artikel den Beitritt weiterere Teile Deutschlands nach deren Beitritt. Die Aufzählung wurde nicht als abschließend angesehen. So ist das Saarland am 1.1.1957 dazugekommen, aber ist es erwähnt worden? Ich kann es nicht finden. Aber es ist dennoch Teil der Bundesrepublik Deutschland und das Grundgesetz gilt auch dort.
Dann sind Länder benannt, die nicht mehr existieren, weil sie zusammengelegt worden sind. Aus Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern wurde 1952 das Bundesland Baden-Württemberg. Aber wegen dieser Zusammenlegung wurde Art. 23 GG nicht geändert.
Die Aufzählung der Länder darin war eine Momentaufnahme für das Jahre 1949.
Das Grundgesetz sollte danach auch in Groß-Berlin gelten. Berlin war eine geteilte Stadt. Im sowjetischen Sektor kam es nur zur Geltung. Und die Geltung im Westteil der Stadt wurde von den Alliierten mit allerhand Vorbehalten belegt, so dass man von einer Geltung dort nicht sprechen konnte. Diese Vorbehalte sind am 3.10.1990 weggefallen.
In seinem berühmten Urteil zum Grundlagenvertrag stellte das Bundesverfassungsgericht 1973 fest
„Sie beschränkt staatsrechtlich ihre Hoheitsgewalt auf den „Geltungsbereich des Grundgesetzes“ (vgl. BVerfGE 3, 288 [319 f.]; 6, 309 [338, 363]), fühlt sich aber auch verantwortlich für das ganze Deutschland (vgl. Präambel des Grundgesetzes).“
Art. 23 ist also vor allem eine Beschränkung des Geltungsbereiches des Grundgesetzes.
In einem Gesetz und auch in einer Verfassung muss kein Geltungsbereich angegeben werden, wenn die betreffende Vorschrift im gesamten Staatsgebiet gelten soll. Und dies war nun mal 1949 für das Grundgesetz nicht der Fall gewesen.
Paris, 17. Juli 1990
Jetzt spielt in den Behauptungen der Reichsdeutschen der 17. Juli 1990 eine sehr große Rolle. An jenem Tag soll doch James Baker, US-Außenminister, den Art. 23 GG aufgehoben haben.
Das Grundgesetz wurde 1949 noch von den Westalliierten genehmigt. Den Deutschland war ja ein besetztes Land. Diese Besetzung wurde mit dem Deutschlandvertrag im Mai 1955 beendet, die Bundesrepublik Deutschland erhielt ihre Souveränität zurück, mit Ausnahme für den westlichen Teil Berlins. Auch bei Angelegenheiten der Wiedervereinigung wollten die Alliierten noch gefragt werden.
Grundgesetzänderungen wurden von diesem Zeitpunkt an nicht mehr von den Alliierten genehmigt. Sie hatten nicht mehr das Recht dazu. Und daher konnte James Baker auch keinen Artikel des Grundgesetzes mit einem Federstrich aufheben.
Aber was war denn am 17. Juli 1990 wirklich in Paris passiert? Im 2+4-Vertrag ist nichts darüber zu finden. Aber Wikipedia tut uns einen sehr großen Gefallen und verlinkt auf die Seite.
Hier können die Protokolle und zahlreiche andere Dokumente nachgelesen werden.
Ich hab mich mal auf die Suche nach dem17. Juli 1990 gemacht. Und ich hab dort sogar etwas gefunden.
Da findet man so nette Texte wie diesen:
17. Juli 1990, Quelle: SZ 17.7.90
Neue Runde der Zwei-plus-Vier-Gespräche
Meckel erwartet Einigung mit Polen
Befriedigende Antwort auf Warschaus Bedenken angekündigt
deu. Berlin (Eigener Bericht) – DDR-Außenminister Markus Meckel hat sich vor dem dritten Treffen der Außenminister der Bundesrepublik, der DDR und der vier Besatzungsmächte, den sogenannten Zwei-plus-Vier-Gesprächen, optimistisch darüber geäußert, daß Polen eine befriedigende Antwort auf seine Besorgnisse wegen der deutschen Vereinigung erhalten wird. Die polnische Regierung möchte eine völkerrechtliche Garantie der Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens möglichst am Tag der deutschen Vereinigung. Auf jeden Fall solle die Garantie in zeitlicher Nähe zum Abschluß der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gegeben werden. Diese regeln die außenpolitischen Aspekte der deutschen Vereinigung. Alle Fragen. die Polen betreffen, werden im Mittelpunkt des Zwei-plus-Vier-Treffens in Paris stehen. Dazu wird auch der polnische Außenminister Skubiszewski in die französische Hauptstadt reisen.
Im DDR-Außenministerium hat man aufmerksam registriert, daß sich die polnische Regierung von den Stimmen aus dem eigenen Lande distanziert hat die in den vergangenen Tagen einen Grenzvertrag noch vor der Vereinigung Deutschlands gefordert hatten. Das ist aus Sicht der Bundesrepublik und auch der DDR rein rechtlich nicht möglich. Ein abschließendes völkerrechtliches Dokument wie die Grenzerklärung muß vom künftigen gesamtdeutschen Parlament ratifiziert werden. Im Juni hatten Bundestag und Volkskammer jeweils eine Erklärung verabschiedet, derzufolge beide Parlamente die Oder-Neiße-Grenze als endgültige Grenzlinie zwischen Deutschland und Polen betrachten. Weder Bundestag noch Volkskammer können jedoch für das vereinigte Deutschland Erklärungen abgeben. Daher kann das Papier juristisch nur als Absichtserklärung verstanden werden.
Ein Grundlagenvertrag zwischen dem vereinigten Deutschland und Polen soll dem Grenzvertrag folgen. Darin soll beispielsweise die Behandlung der deutschstämmigen Minderheit, die in Polen lebt, geklärt werden. Die Bonner Regierung würde gern Grenz- und Grundlagenvertrag gemeinsam beschließen. Polen befürchtet aber, daß dadurch auch die endgültige Festlegung der Grenze immer weiter verschoben werden könnte. Sie bevorzugt deshalb die Trennung der Verträge. Um bei der Oder-Neiße-Grenze ganz sicher zu sein, schlug Polen sogar vor, bis zur völkerrechtlichen Grenzanerkennung die Rechte der Alliierten auf deutschem Boden aufrechtzuerhalten, auch wenn Deutschland schon vereinigt sein sollte.
Die DDR unterstützt Polen zumindest tendenziell in dieser Vorgehensweise. In Ostberlin ist man der Meinung, erst solle die Grenzfrage eindeutig gelöst werden, dann könnten Deutschland und Polen als souveräne Staaten über die übrigen Probleme reden. Aus dem DDR-Außenministerium verlautete, Ostberlin habe bei der Angelegenheit eine gewisse Vermittlerrolle zwischen Bonn und Warschau übernommen. Dazu paßt auch das überraschende Treffen Meckels mit dem französischen Außenminister Dumas am Montag. Die Franzosen gelten als Befürworter der polnischen Vorschläge.
Deutsche Presseberichte, nach denen Polen zudem eine Änderung der Artikel 23 und 116 des Grundgesetzes vor Abschluß der Zwei-plus-Vier-Gespräche verlangt, fanden keine Bestätigung. Das polnische Außenministerium erklärte am Montag, Warschau wolle sich keineswegs in die Verfassung eines Nachbarlandes einmischen. Man erwarte aber, daß nach der Vereinigung die überflüssig gewordenen Artikel geändert werden, die den Beitritt deutscher Gebiete zur Bundesrepublik regeln und sich indirekt auf die Grenzen von 1937 beziehen.
Man beachte den letzten Satz. Polen, das angeblich von Genscher gedrängt worden ist, auf der Oder-Neiße-Linie zu bestehen, erwartet von Deutschland, dass nach der Wiedervereinigung die überflüssig gewordenen Artikel geändert werden, die den Beitritt deutscher Gebiete zur Bundesrepublik Deutschland regeln und sich indirekt auf die Grenzen von 1937 beziehen. Dies war also ein polnischer Wunsch gewesen.
Weiter erfährt man
17. Juli 1990, Quelle: Albrecht 101-108
Paris – Zwei-plus-Vier Außenministerkonferenz
Vorfeld zu Paris
Polen wollte SU Truppen in der DDR solange Wiedervereinigung Risiken mit sich brachte
Polen hatte gefordert, die BRD solle alle Forderungen nach den Grenzen von 1937 im GG und Bundesverfassungsgericht, … streichen
James Baker hat an diesem Tag natürlich auch etwas gesagt.
17. Juli 1990, Quelle: AMERIKA DIENST 28/90
DEUTSCHLANDPOLITIK
18. Juli 1990
BAKER: VEREINIGTES DEUTSCHLAND IN GREIFBARE NÄHE GERÜCKT
Erklärung des Außenministers bei den Pariser Zwei-plus-Vier-Gesprächen
PARIS – (AD) – Außenminister Baker zufolge sind ein Vereinigtes Deutschland und ein stabiles Sicherheitsumfeld für Europa jetzt „in greifbare Nähe gerückt“.
In der Abschlußerklärung zum Zwei-plus-Vier-Ministertreffen in Paris verlieh Baker am 17. Juli 1990 seiner Erwartung Ausdruck, daß die Vereinigten Staaten und die anderen vier Mächte beim Jahrestag des vor sechs Monaten abgehaltenen Treffens in Ottawa, bei dem der Zwei-plus-Vier-Prozeß eingeleitet wurde, „ein vereinigtes, demokratisches und souveränes Deutschland begrüßen werden, das einen wertvollen Beitrag zur Förderung und Erhaltung eines ungeteilten und freien Europas leistet“.
Nachfolgend veröffentlichen wir die Ansprache von Außenminister Baker im Wortlaut.
Vor rund sechs Monaten haben wir den Zwei-plus-Vier-Prozeß in die Wege geleitet. Es war ein neuer Prozeß, den neuen Zeiten angepaßt. Unsere Zielsetzung war ehrgeizig. jedoch keineswegs zu hochgesteckt für dieses neue Zeitalter europäischer Hoffnung und Freiheit. Unser Ziel war die Erleichterung der friedlichen und demokratischen Vereinigung Deutschlands und die Aussöhnung Europas. Heute sind wir diesem Ziel ein gutes Stück näher gekommen.
Wir halten das zur Beendigung unserer Arbeit erforderliche Tempo und verwirklichen unser Ziel – die Aufhebung der Rechte und Pflichten der vier Mächte sowie die Gewährung der vollen Souveränität für Deutschland zum Zeitpunkt der Vereinigung im Jahr 1990. Vor nur sechs Wochen hat Präsident Bush Präsident Gorbatschow beim Washingtoner Gipfeltreffen neun Punkte vorgelegt, in denen unsere feste Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht wird, die legitimen sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen der Sowjetunion anzusprechen.
Vor zwei Wochen haben die NATO-Mitgliedstaaten in London eine Erklärung verabschiedet, die diese Absicht in Anweisungen umsetzte – spezifische Verpflichtungen, um dem Osten zur Seite zu stehen, die Verteidigungsdoktrin und Strategien der NATO zu modifizieren und schrittweise neue KSZE-Institutionen für ein Europa aufzubauen, das sich des Friedens und der Freiheit erfreut.
Am 16. Juli 1990 haben sich die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion in Stawropol auf acht Punkte geeinigt, die uns gestatten, die Rechte der vier Mächte zum Zeitpunkt der Vereinigung aufzuheben – die volle Souveränität Deutschlands und uneingeschränkten Vorrechte gemäß der Schlußakte von Helsinki wiederherzustellen – und damit eine solide Grundlage für europäische Sicherheit und Stabilität zu schaffen.
Heute kommen wir mit unserem polnischen Kollegen, Außenminister Skubiszewski, in Anerkennung des besonderen Interesses zusammen, das wir alle an der Sicherstellung der Gültigkeit der polnisch-deutschen Grenze haben. Alle stimmen darin überein, daß ein vereinigtes Deutschland aus der Bundesrepublik, der Deutschen Demokratischen Republik und Berlin bestehen wird – nicht mehr und nicht weniger. Nach Gesprächen mit unserem polnischen Kollegen haben wir uns auch nach dem Einlenken der polnischen Seite auf eine Reihe von Prinzipien geeinigt, die uns bei der endgültigen Beilegung der Grenzfrage leiten sollen. Darüber hinaus haben wir natürlich die Erklärung der deutschen Seite begrüßt, den Grenzvertrag unverzüglich nach der Vereinigung im Einklang mit den bereits von den beiden deutschen Parlamenten eingegangenen Verpflichtungen in Angriff zu nehmen. Als nächstes werden unsere Regierungsvertreter anhand der von ihnen erstellten Liste außenpolitischer Fragen ein abschließendes Dokument vorbereiten.
Abschließend möchte ich die Freude der Vereinigten Staaten darüber zum Ausdruck bringen, daß wir uns auf dem Weg zu einem souveränen und vereinigten Deutschland sowie einem stabilen Sicherheitsumfeld für Europa befinden. Wir ersetzten die historischen nationalen Interessen, die uns geteilt haben, durch gemeinsame europäische und atlantische Interessen, die uns vereinigen.
Das Ergebnis, auf das wir so lange hingearbeitet haben, ist jetzt in greifbare Nähe gerückt. Beim Jahrestag des Treffens in Ottawa werden die Vereinigten Staaten und die anderen vier Machte erwartungsgemäß ein vereinigtes, demokratisches und souveränes Deutschland begrüßen, das einen wertvollen Beitrag zur Förderung und Erhaltung eines ungeteilten und freien Europas leistet.
Auch Art. 23 GG ist am 17. Juli 1990 in Paris etwas gesagt worden:
17. Juli 1990, Quelle: Elbe 180-181; 199
17. Juli 1990
Paris – Zwei-plus-Vier Außenministerkonferenz
Für Schewardnadse ist die Blockbildung beendet mit der Aufhebung der Vier Mächte Rechte nach der Wiedervereinigung. DDR gegen Kaukasus Ergebnis , wollen keine NATO Truppen auf ihrem Gebiet und nuklearwaffenfreies Deutschland.
BRD muß polnische Westgrenze vertraglich anerkennen und Artikel 23 aus Grundgesetz streichen. (180-181)
Eins plus Vier “ . . . waren Anspruch und Aufgabe einer eigenständigen Außenpolitik der abtretenden DDR beendet“.(199).
Das Treffen in Paris
Am 17. Juli 1990 – einen Tag nach der öffentlich empfundenen Sensation von Archys – fand das dritte »Zwei-plus-Vier«- Treffen auf Außenministerebene in Paris statt. »Die Zeit der Blöcke ist vorbei«, resümierte der sowjetische Außenminister Schewardnadse. Moskau habe seine Vorbehalte gegen die Aufhebung der Vier-Mächte-Rechte aufgegeben; dies sei durch die veränderte Position der NATO möglich geworden.
Während sich die westlichen Außenminister über die im Kaukasus erzielte Einigung erfreut zeigten, nörgelte die DDR-Delegation zum Unverständnis aller anderen Delegationen herum: Sie lehnte die Präsenz von NATO-Truppen auf dem Gebiet der jetzigen DDR nach Abzug der sowjetischen Truppen ab und forderte ein nuklearwaffenfreies Deutschland. Sie verlangte außerdem, in grotesker Fehleinschätzung der Stimmungslage der Westberliner Bevölkerung, den Abzug der westlichen Alliierten aus Berlin.
Bei dieser Gelegenheit wurde auch deutlich – was die Bonner Delegation schon seit längerer Zeit wußte, daß die westdeutschen Berater um Außenminister Meckel zwar die Vereinigung wollten, aber größeren Wert auf die Durchsetzung von alten Zielen der Friedensbewegung – namentlich der Entnuklearisierung Deutschlands legten. Meckels Büroleiter Wolfram von Fritsch beschrieb später die Rolle der DDR so: »Das Pariser Ministertreffen steht unter dem Zeichen drohender Isolierung der DDR. Die Währungsunion hatte innenpolitisch für unumkehrbare Verhältnisse gesorgt, die Festlegung auf einen frühen Wiedervereinigungstermin, vor allem aber der überragende Erfolg Genschers und Kohls im Kaukasus stellten klar: Auf deutscher Seite kommt es schon jetzt, erst recht aber nach der Wiedervereinigung, nur noch auf Bonn an. Diese Wirkung steigerte sich, nachdem faktisch nur Meckel Bedenken gegen den Kaukasus-Kompromiß anmeldete. Entsprechend frostig verlief die Konferenz, und es bedurfte eines ganztägigen Besuchs Meckels an Genschers Urlaubsort Anfang August, um die Beziehungen zu entspannen.«
In Anwesenheit des polnischen Außenministers Krzysztof Skubiszewski wurde in Paris die Frage der polnischen Westgrenze abschließend behandelt. Am 21. Juni 1990 hatten der Deutsche Bundestag und die Volkskammer der DDR eine gleichlautende Erklärung zur Westgrenze Polens verabschiedet. Sie enthielt die unmißverständliche Botschaft an Polen: »Die Grenze Polens zu Deutschland, so wie sie heute verläuft, ist endgültig. Sie wird durch Gebietsansprüche von uns Deutschen weder heute noch in Zukunft in Frage gestellt. Dies wird nach der Vereinigung Deutschlands in einem Vertrag mit der Republik Polen völkerrechtlich verbindlich bekräftigt werden . . . «
Skubiszewski machte in der für ihn typischen, nur vordergründig umständlichen, professoralen Art längere Ausführungen zur Grenzfrage. Er war übrigens der einzige Minister, der in allen vier Konferenzsprachen des »Zwei-plus-Vier«- Prozesses hätte verhandeln können. Er sagte, daß es kein polnisches Junktim zwischen der Souveränität Deutschlands und einer vertraglichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gebe. Die Entschließungen der beiden deutschen Parlamente vom 21. Juni 1991 gingen »sehr weit«. Sie sollten aber »juristisch unangreifbar« in dem Sinne sein, daß ihre Endgültigkeit auch nicht durch spätere Ereignisse und Umstände in Frage gestellt werden könne.
Die sechs Außenminister erklärten sich mit der polnischen Forderung einverstanden, daß in der Verfassung des vereinten Deutschlands der Hinweis auf die deutsche Einheit nach der Präambel und die Beitrittsmöglichkeit nach Art. 23 nicht mehr enthalten sein sollte. Damit blieben jegliche weiteren Gebietsansprüche Deutschlands ausgeschlossen. Skubiszewski bezeichnete das Ergebnis des Treffens öffentlich als »völlig befriedigend«.
Eine realistischere Schilderung gab in jenen Julitagen auf der »Zwei-plus-Vier«- Konferenz in Paris die kenntnisreiche Warschauer Korrespondentin der Wochenzeitung »Die Zeit«:
»Aus Furcht, nach der Zwei-plus-Vier-Konferenz endgültig allein einem Verhandlungspartner gegenüberzustehen, der vielleicht wie schon im Frühjahr Bedingungen an einen Grenzvertrag knüpft«, schrieb Helga Hirsch am 20. Juli 1990, »unternahm das polnische Außenministerium … eine taktisch nicht sehr gelungene Offensive: Die Rechte der Siegermächte sollten auch für das vereinte Deutschland solange gelten, bis der deutsch-polnische Grenzvertrag abgeschlossen sei. Doch die Westmächte reagierten kühl, die Deutschen (West) mit hochmütiger Schärfe. Die sowjetische Unterstützung stellte sich nach wenigen Tagen als belanglos heraus.«
Beim Treffen der Außenminister in Paris, klagte Meckels Politischer Direktor von Braunmühl später, hätten in Wirklichkeit »die ersten Eins-plus-Vier-Gespräche« stattgefunden. Auf die Position der DDR sei es in Paris schon nicht mehr angekommen.
( . . . )
Mit den von Präsident Gorbatschow und Kanzler Kohl in Archys veröffentlichten Vereinbarungen zur Gestaltung der deutschen Einheit waren Anspruch und Aufgabe einer eigenständigen Außenpolitik der abtretenden DDR beendet.
Interessant ist darin folgender Absatz
„Die sechs Außenminister erklärten sich mit der polnischen Forderung einverstanden, daß in der Verfassung des vereinten Deutschlands der Hinweis auf die deutsche Einheit nach der Präambel und die Beitrittsmöglichkeit nach Art. 23 nicht mehr enthalten sein sollte. Damit blieben jegliche weiteren Gebietsansprüche Deutschlands ausgeschlossen. Skubiszewski bezeichnete das Ergebnis des Treffens öffentlich als »völlig befriedigend«.“
Man war sich also darüber einig, dass nach der Wiedervereinigung Deutschlands es keine weiteren deutschen Gebiete außerhalb des vereinten Deutschlands gibt, die Einheit somit vollendet ist, und in der Verfassung des vereinten Deutschlands keine Beitrittsmöglichkeit anderer Gebiete wie in Art. 23 des Grundgesetzes mehr vorgesehen ist.
Es ging also gar nicht um das Grundgesetz, sondern um die künftige Verfassung des vereinten Deutschlands, das ja am 17. Juli noch nicht vereint war.
Von einer Streichung des Art. 23 GG durch James Baker, den US-Außenminister, kann also keine Rede sein.
Eine solche Behauptung ist eine infame Lüge.
Im 2+4-Vertrag ist dies in Art. 1 Abs. 4 folgendermaßen ausgedrückt:
„(4) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik werden sicherstellen, daß die Verfassung des vereinten Deutschland keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind. Dies gilt dementsprechend für die Bestimmungen, die in der Präambel und in den Artikeln 23 Satz 2 und 146 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland niedergelegt sind.“
Dass das vereinte Deutschland sich Bundesrepublik Deutschland nennen wird und dass das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschlands auch künftig die Verfassung des Vereinten Deutschlands sein wird, ist eine innere deutsche Angelegenheit gewesen, und ging die übrigen Verhandlungspartner in Paris nichts an.
Aufhebung des Art. 23 Grundgesetz
Wie ist jetzt Artikel 23 Grundgesetz alte Fassung tatsächlich aus dem Grundgesetz verschwunden, und vor allem zu welchem Zeitpunkt?
Im Grundgesetz ist genau angeführt, wie es geändert werden kann. Auch die Aufhebung eines Artikels ist eine Änderung des Grundgesetzes.
Artikel 80
(1) Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben. Ist durch Gesetz vorgesehen, daß eine Ermächtigung weiter übertragen werden kann, so bedarf es zur Übertragung der Ermächtigung einer Rechtsverordnung.
(2) Der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, vorbehaltlich anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung, Rechtsverordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers über Grundsätze und Gebühren für die Benutzung der Einrichtungen der Bundeseisenbahnen und des Post- und Fernmeldewesens, über den Bau und Betrieb der Eisenbahnen, sowie Rechtsverordnungen auf Grund von Bundesgesetzen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen oder die von den Ländern im Auftrage des Bundes oder als eigene Angelegenheit ausgeführt werden.
Alle Verfassungsänderungen folgen den Bestimmungen dieses Artikels.
Mit Art. 23 GG war das aber etwas besonderes. Die Änderung sollte ja nicht für die alte Bundesrepublik gelten, sondern für das vereinte Deutschland.
Natürlich wird die Verfassungsänderung im Bundesgesetzblatt veröffentlicht, und tritt, wenn nicht anders festgelegt, am Tag nach der Veröffentlichung in Kraft.
In diesem Fall war es etwas komplizierter. Diese Grundgesetzänderung, und noch ein paar andere, sollten ja auch im Bereich der früheren DDR und in Berlin gelten, also in ganz Deutschland. Dafür hatte das Grundgesetz keine Regeln aufgestellt. An sowas war 1949 noch nicht zu denken gewesen.
Deshalb erfolgte die Änderung des Grundgesetzes ausnahmsweise durch einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR, dem Einigungsvertrag.
Da heißt es
Artikel 4
Beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wird wie folgt geändert:
Die Präambel wird wie folgt gefaßt:
„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,
von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“
Artikel 23 wird aufgehoben.
Artikel 51 Abs. 2 des Grundgesetzes wird wie folgt gefaßt:
„(2) Jedes Land hat mindestens drei Stimmen, Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern haben vier, Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohnern fünf, Länder mit mehr als sieben Millionen Einwohnern sechs Stimmen.“
Der bisherige Wortlaut des Artikels 135 a wird Absatz 1. Nach Absatz 1 wird folgender Absatz angefügt:
„(2) Absatz 1 findet entsprechende Anwendung auf Verbindlichkeiten der Deutschen Demokratischen Republik oder ihrer Rechtsträger sowie auf Verbindlichkeiten des Bundes oder anderer Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, die mit dem Übergang von Vermögenswerten der Deutschen Demokratischen Republik auf Bund, Länder und Gemeinden im Zusammenhang stehen, und auf Verbindlichkeiten, die auf Maßnahmen der Deutschen Demokratischen Republik oder ihrer Rechtsträger beruhen.“
In das Grundgesetz wird folgender neuer Artikel 143 eingefügt:
„Artikel 143
(1) Recht in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet kann längstens bis zum 31. Dezember 1992 von Bestimmungen dieses Grundgesetzes abweichen, soweit und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden kann. Abweichungen dürfen nicht gegen Artikel 19 Abs. 2 verstoßen und müssen mit den in Artikel 79 Abs. 3 genannten Grundsätzen vereinbar sein.
(2) Abweichungen von den Abschnitten II, VIII, VIII a, IX, X und XI sind längstens bis zum 31. Dezember 1995 zulässig.
(3) Unabhängig von Absatz 1 und 2 haben Artikel 41 des Einigungsvertrags und Regelungen zu seiner Durchführung auch insoweit Bestand, als sie vorsehen, daß Eingriffe in das Eigentum auf dem in Artikel 3 dieses Vertrags genannten Gebiet nicht mehr rückgängig gemacht werden.“
Artikel 146 wird wie folgt gefaßt:
„Artikel 146
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Dieser Einigungsvertrag, mit Art. 4, wurde vom Bundestag und der Volkskammer der DDR jeweils mit verfassungsändernder Mehrheit angenommen und zeitgleich mit dem Gesetz zum Einigungsvertrag am 28. September 1990 im Bundesgesetzblatt geändert.
Jetzt sind selbst schon bei Anhängern der Reichsbewegung Zweifel aufgetaucht, ob man die Aufhebung des Art. 23 durch James Baker am 17. Juli 1990 überhaupt belegen könne, und ob man nicht besser von einem Wegfall des Artikels am 29. September 1990 ausgehen solle.
Dann wäre nämlich der Art. 23 GG mehrere Tage vor der deutschen Wiedervereinigung weggefallen, die Bundesrepublik wäre zu diesem Zeitpunkt erloschen gewesen, und die DDR hätte nicht einem nicht bestehenden Gebilde beitreten können.
Aber diese Überlegung führt ins Leere. Art. 4 des Einigungsvertrages ist überschrieben mit
Beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes
Daraus folgt, dass diese Grundgesetzänderung erst mit dem Beitritt der DDR wirksam werden konnten. Und der Beitritt erfolgte nun mal am 3. Oktober 1990, um 00:00 Uhr, keine Sekunde früher. Und genau zu diesem Zeitpunkt sind die im Einigungsvertrag vereinbarten Grundgesetzänderungen in Kraft getreten, keine Sekunde früher.
Da von diesem Zeitpunkt an das Grundgesetz in ganz Deutschland gilt, das aus der früheren BRD, der DDR und Berlin besteht, war eine Aufzählung der Länder, in denen es gelten soll, nicht mehr nötig. Außerdem sind sie in der Präambel zu finden.
Wer also immer noch davon ausgeht, dass James Baker am 17. Juli 1990 Art. 23 GG aufgehoben hat, der verlässt sich auf eine plumpe Lüge, die selbst in Reichskreisen nicht mehr allzu ernst genommen wird.